«Trauer macht süchtiger als Hoffnung», habe ich irgendwann irgendwo gelesen. Und ich sage dir, mein Freund, das ist wahr. Du fragst mich, was – um Himmels Willen – ich getan habe? Nichts habe ich getan, nichts, ausser mir das Leben zurückzuholen, das unter dem Lärm des Glücks unterzugehen drohte.

Lass dir gesagt sein, mein Freund: Diese Leere, diese Stille, die jetzt zurückbleibt, die erinnert dich daran, dass du lebst. Und wie du lebst! Intensiv und innig lebst du, jede Faser deines Körpers vibriert, weil die Welt um dich herum still geworden ist. Wenn da bloss die Zeit nicht wäre. «Die Zeit heilt alle Wunden», sagt der Volksmund. Und das, mein Freund, das tut sie unaufhaltsam, unerbittlich, und sie tut es immer wieder. Dann werden die Geräusche wieder lauter, du kannst plötzlich die Stimmen wieder hören, die du vergessen glaubtest. Und nicht nur das! Du kannst sogar verstehen, was sie sagen. Nur ganz wenig zu Beginn, doch ehe du’s dich versiehst, ist alles voll davon. Ebbe und Flut ganz ähnlich – nur kurz wendest du deinen Blick vom Sand ab und gleich darauf umspült das eiskalte Meer deine nackten Zehen. Genauso schmerzhaft hören sich die Stimmen deiner Freunde an, die dir sagen, dass sie dich zurückholen. Zurück ins Leben. Sie bemerken dabei nicht, dass sie damit das Leben verdecken. Sie schütten es geradewegs zu mit ihren ach-so-gut-gemeinten Ratschlägen und aufmunternden Worten. Dabei verstehen sie nicht, dass diese Leere, diese absolute Stille, das Leben in seiner ganzen schmerzhaften Schönheit erst offenbart.

Dagegen kannst du nichts tun, mein Freund. Sie wollen dir helfen, und das tun sie nicht in böser Absicht, aus Unverständnis und Ignoranz vielleicht, aber ganz bestimmt nicht in böser Absicht. Was solltest du also unternehmen können, mein Freund? Die Leere wird nach und nach aufgefüllt, und schon bald ist sie nichts mehr als eine blasse Erinnerung, die einen bleiernen Geschmack auf der Zunge hinterlässt. Doch die Welt lässt nicht zu, dass du dich der Leere hingibst. Die Welt lässt die Stille nicht zu. Egal was du tust, die Gedanken kreisen immer, und nichts ist mehr, wie es einmal war. Ein Klumpen formt sich in deinem Hals, wandert tiefer, hinterlässt ein mulmiges Gefühl in der Magengegend und löst sich schliesslich in Luft auf. Und dann, mein Freund, dann hat dich das laute Leben zurück. Es hält dich fest, es reisst dich mit sich. Du gehst aus, du lernst neue Leute kennen, du trinkst zu viel, du tust die Dinge, die von dir erwartet werden und die, die nicht von dir erwartet werden. Das Gefühl der Leere ist verschwunden, noch nicht einmal mehr die Erinnerung an sie nagt an dir. Nur manchmal, manchmal in den Momenten, die sich wie der morgendliche Kater durch die Hirnrinde nagen, fällt dir wieder ein, dass du weisst, wie das Leben ist. Und plötzlich, eines Tages wird das Verlangen nach der Stille so gross, dass du den Lärm nicht mehr erträgst.

Dann, mein Freund, ist die Zeit gekommen, in der du Brücken hinter dir abreissen möchtest, in der du versuchst, endlich wieder du selber zu sein, die Zeit, in der du mit niemandem mehr sprechen willst. Was nützen dir Worte, die nicht ausreichen, das zu beschreiben, was du weisst, was du fühlst? Ich kann dir sagen, was sie dir nützen: Nichts, denn sie bedeuten nichts. Diese Gewissheit kehrt ganz langsam zu dir zurück. Du erinnerst dich wieder an die Leere und an die Stille, in der die Gedanken noch Bedeutung in sich tragen, in der dein Körper nur dir gehört, in der du weisst, wer du bist.

Und das alles kannst du im lauten Glück nicht mehr fühlen. Darum, mein Freund, ertrage ich das Glück nicht. Nein, ich habe nichts getan.


© Janine Meyer


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Beschreibung des Autors zu "Bekenntnis eines Sehnsüchtigen | oder | Brief an einen Freund"

Eigentlich ein Beitrag für den Blick-Wettbewerb zum Thema "Sehnsucht", 2009. Der Text ist nicht besonders lüpfig, nicht besonders lustig und auch nicht so leicht zu verstehen, deshalb wurd er wohl auch nicht ausgezeichnet. So jedenfalls meine Laiendiagnose.

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Kommentare zu "Bekenntnis eines Sehnsüchtigen | oder | Brief an einen Freund"

Re: Bekenntnis eines Sehnsüchtigen | oder | Brief an einen Freund

Autor: GirlLulu   Datum: 14.01.2014 16:54 Uhr

Kommentar: Ich finde deinen Text sehr gut! Erinnert mich irgendwie an Medea von Christa Wolf und an Tribute von Panem :). Interessant und vor allem wirklich gut geschrieben, ich mag den Stil. Die Jury bei diesen Wettbewerbe ist meistens geschmacklos ;)

Re: Bekenntnis eines Sehnsüchtigen | oder | Brief an einen Freund

Autor: janevil   Datum: 19.01.2014 20:35 Uhr

Kommentar: Vielen Dank für die lieben Worte, girllulu! Das dacht' ich mir eben auch, dass die Jury nicht die beste war ;-)

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